Mit seinem Saisonschwerpunkt ›Afrodiaspora – Composing While Black‹ wirft das DSO in der Spielzeit 2025/2026 ein Schlaglicht auf die Musik Schwarzer Komponist:innen aus vier Jahrhunderten und drei Kontinenten. Das Orchester setzt damit seine Traditionslinie fort, die bereits in den 1980er-Jahren mit der Wiederentdeckung jüdischer und vom Nationalsozialismus verfolgter Komponist:innen begann und über das Saisonmotto ›Kein Konzert ohne Komponistin!‹ (2023/2024) und ›Orchester für die Demokratie‹ (2024/2025) bis in die Gegenwart führt.

Artist in Focus Partner  Was ist Afrodiaspora?  Essay lesen

Schon früh gab es afrodiasporische Komponist:innen und Musiker:innen – also Tonkünstler:innen mit afrikanischen Wurzeln, die durch Migration, Versklavung oder andere Formen der Zerstreuung in verschiedene Teile der Welt gelangt sind –, die sich, primär in Europa und auf dem amerikanischen Kontinent, der europäisch geprägten klassischen Musik zuwandten und dabei die unterschiedlichsten Musiktraditionen und Erfahrungswelten in ihr Komponieren einbrachten.

Im Repertoirekanon, im Konzertleben und in der musikhistorischen Geschichtsschreibung spielten und spielen sie bis heute allerdings kaum eine Rolle. Das DSO möchte das ändern und geht mit seinem Saisonschwerpunkt mit gutem Beispiel voran. ›Afrodiaspora – Composing While Black‹ präsentiert die Musik afrodiasporischer Komponist:innen auf der großen Bühne: nicht auf thematischen Inseln oder in Sonderkonzerten, sondern als selbstverständlicher Teil zahlreicher Symphoniekonzerte der DSO-Saison 2025/2026 in der Berliner Philharmonie.

Artist in Focus: Abel Selaocoe

Foto: Phil Sharp

Abel Selaocoe ist »Artist in Focus« der Saison 2025/2026. Der südafrikanische Cellist ist ein virtuoser Grenzgänger zwischen musikalischen Welten, der auf dem Klassikpodium ebenso überzeugt wie als genialer Improvisator und Frontmann seiner Band. Er ist vom 19. bis 22. März 2025 in gleich vier Konzerten zu erleben: mit Montgomerys Auftragswerk in einem Symphoniekonzert und einem Casual Concert, mit einem Solokonzert im Quasimodo und schließlich mit seinem vierköpfigen Bantu-Ensemble im Haus der Kulturen der Welt.

Mehr: »Artist in Focus« Abel Selaocoe


Partner

Das DSO freut sich, das Haus der Kulturen der Welt (HKW) und seinen Intendanten und Chefkurator Prof. Dr. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung als Kooperationspartner für ›Afrodiaspora – Composing While Black‹ gewonnen zu haben. Mit seinem Fokus auf Vielstimmigkeit und Begegnung bringt das HKW unterschiedliche Vorstellungen von unserer Welt zusammen. Sein Programm lebt von den vielfältigen Geschichten, die sich heute von Deutschland aus im internationalen Austausch erzählen lassen. Wichtigstes Ziel ist es dabei, Kulturen nicht als »andere« zu präsentieren, sondern sie erfahrbar zu machen. Davon kann sich das DSO-Publikum bei zwei Kammerkonzerten und einem Abend mit der Band des »Artist in Focus« Abel Selaocoe im ikonischen Gebäude im Tiergarten am Spreeufer überzeugen.

George E. Lewis. Foto: Maurice Weiss

Vor allem aber bedankt sich das DSO bei George E. Lewis, der dem Orchester als Kurator bei der dramaturgischen Planung und Auswahl der Werke zur Seite stand. Lewis ist Komponist, Musikwissenschaftler, Posaunist und Professor an der New Yorker Columbia University und hat gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Dr. Harald Kisiedu 2023 den zweisprachigen Sammelband ›Composing While Black: Afrodiasporische Neue Musik Heute‹ (Wolke Verlag) herausgegeben.

Das DSO dankt der Beauftragen der Bundesregierung für Kultur und Medien für die großzügige Unterstützung von ›Afrodiaspora – Composing While Black‹ im Rahmen des Programms ›Exzellente Orchesterlandschaft Deutschland‹.

Was ist »Afrodiaspora«?

Der Begriff »afrodiasporisch« bezieht sich auf die kulturellen, sozialen und historischen Querverbindungen von Menschen afrikanischer Herkunft, die durch Migration, Versklavung oder andere Formen der Zerstreuung in verschiedene Teile der Welt gelangt sind. Diese Communities haben einzigartige kulturelle Ausdrucksformen entwickelt, die afrikanische Traditionen mit Einflüssen aus ihren neuen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten verbinden. In Musik, Kunst und Literatur zeigt sich die afrodiasporische Identität als dynamisches Zusammenspiel von Geschichte, Widerstand und kreativer Transformation.

 

Essay: ›Afrodiaspora – Composing While Black‹

von Harald Kisiedu und George E. Lewis

In den vergangenen zehn Jahren hat die Sichtbarkeit klassischer afrodiasporischer Komponist:innen enorm zugenommen. Nachdem diese Komponist:innen in Wissenschaft und Medien bislang kaum eine Rolle spielten, geht das DSO in dieser Saison mit gutem Beispiel voran und rückt diese bisher scheinbar unerschlossene Ressource ins Scheinwerferlicht: In Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt präsentiert es die saisonübergreifende Initiative ›Afrodiaspora – Composing While Black‹. Die vom Komponisten und Columbia-Professor George E. Lewis, der Leiterin der Künstlerischen Planung des DSO, Marlene Brüggen, und dem Direktor des DSO, Thomas Schmidt-Ott, gemeinsam kuratierte Saison zeigt die afrodiasporische Orchester- und Kammermusik als einen internationalen, interkulturellen und generationenübergreifenden Innovationsraum, der den Zuhörer:innen neue Themen, Geschichten, Identitäten und Vergnügen bietet.

Was bedeutet »Composing While Black«?

Der Titel »Composing While Black« ist eine Anspielung auf die Begegnungen Schwarzer US-Bürger:innen mit der Polizei, bei denen sie ohne ersichtlichen Grund festgehalten werden; ihr vermeintliches Vergehen nennen sie scherzhaft »Driving While Black«, ein satirischer Verweis auf das eigentliche Vergehen des Fahrens unter Alkoholeinfluss. Ziel der polizeilichen Maßnahmen ist es, den Betroffenen das Gefühl zu geben, dass sie »fehl am Platz« sind. In dieser Konzertreihe wird »Composing While Black« jedoch als Quelle des Vergnügens, der Begeisterung und der Innovation vorgestellt – als eine neue Identität für klassische Musik, die eine Vielzahl historischer, geografischer und kultureller Querverbindungen umfasst und deren Ziel nicht nur Vielfalt, sondern auch eine neue Komplexität ist, die eine weitaus größere kreative Tiefe verspricht. 

Ein historischer Blick auf afrodiasporische klassische Musik

Die klassische afrodiasporische Musik existiert seit Langem, insbesondere in Europa. Im 16. Jahrhundert gab es die Schwarzen Trompeter und Pauker in Deutschland sowie Vicente Lusitano, einen Pionier des chromatischen Kontrapunkts. Im 18. Jahrhundert komponierte Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges nicht nur Symphonien, Konzerte und Opern; er war auch eine wichtige militärische Figur der Französischen Revolution, deren Werke später von Napoleon verboten wurden. Im 19. Jahrhundert entstand Beethovens ›Sonata mulattica‹ für den afropolnischen Geiger und Komponisten George Bridgetower; sie ist heute allgemein als ›Kreutzersonate‹ bekannt. Der afrokubanische Geiger und Komponist José White Lafitte schrieb Konzerte, die international Beachtung fanden. Ähnlich berühmt war der versklavte amerikanische Pianist Thomas »Blind Tom« Wiggins, der als kompositorisches Wunderkind mit zehn Jahren im Weißen Haus auftrat und über ein Repertoire von mehr als 5.000 Werken verfügte. Bereits ein halbes Jahrhundert vor den Vertreter:innen der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts wie Henry Cowell verwendete Wiggins in seiner virtuosen Klaviermusik Techniken wie Toncluster. 

Ein wichtiger Vorläufer dieser Konzertreihe war die bahnbrechende ›Black Composers Series‹, die zwischen 1974 und 1978 bei CBS Masterworks Records erschien und Orchesterwerke einer Reihe von Komponisten dokumentierte, deren Musik in dieser Saison vorgestellt wird, darunter Bologne, Hakim, Walker und Adolphus Hailstork. Der Titel ›Afrodiaspora – Composing While Black‹ verdankt sich dem Konzept der »Diaspora-Ästhetik« des afroamerikanischen Komponisten Olly Wilson, dessen ›Shango Memory‹ (1995) in der Reihe zu hören ist.

Interkulturelle Einflüsse

Komponist:innen der Afrodiaspora stellen in ihrer Musik regelmäßig interkulturelle Bezüge her und verweisen auf die Idee, dass klassische Musik selbst eine Diaspora-Melange ist. Die afrikanischen Komponisten Joshua Uzoigwe und Justinian Tamusuza  kombinieren Klänge, die an ihre Musiktraditionen erinnern, um das zu schaffen, was der nigerianische Komponist Akin Euba als »einen neuen Typus von Komponisten« bezeichnete, »der ein Idiom verwendet, das teilweise auf dem der europäischen Kunstmusik basiert«. William L. Dawsons ›Negro Folk Symphony‹ aus dem Jahr 1934  erkundet kulturelle Verbindungen zwischen westafrikanischen, afroamerikanischen und europäischen Formen, während in Howard Swansons ›Short Symphony‹ (1948) eine raffinierte harmonische Sprache, lyrische Ausdruckskraft, eine klare formale Struktur und synkopierter rhythmischer Schwung zutage treten, wobei europäische und afroamerikanische Traditionen verschmelzen. 

Inspiration durch Literatur und Spiritualität

Literarische und spirituelle Bezüge gibt es in afrodiasporischen Kompositionen zuhauf. In einem ihrer bekanntesten Werke, dem Kunstlied ›The Negro Speaks of Rivers‹ (1942), vertonte die amerikanische Komponistin Margaret Bonds das gleichnamige Gedicht von Langston Hughes; er war einer der führenden Köpfe der »Harlem Renaissance«, der einflussreichen afroamerikanischen kulturellen Bewegung der 1920er- und 1930er-Jahre. Bonds bereichert den Text um blueslastige Harmonien und lyrischen Gesang. Carlos Simons ›Fate Now Conquers‹ (2020) wurde durch einen Eintrag zur ›Ilias‹ in einem Beethoven-Notizbuch von 1815 sowie harmonische Strukturen in Beethovens Siebter Symphonie inspiriert, während Talib Rasul Hakim in ›Visions of Ishwara‹ für großes Orchester (1970) seine Auseinandersetzung mit dem hinduistischen Konzept des höchsten Wesens thematisiert. 

Auseinandersetzung mit Versklavung

Zwei sehr persönliche und ergreifende Werke, die sich mit der Erfahrung der Versklavung auseinandersetzen, sind Billy Childs’ Saxophonkonzert ›Diaspora‹ (2023), das Gedichte von Claude McKay, Maya Angelou und Nayyirah Waheed vertont, und George Walkers ›Lyric for Strings‹ (1990), das dem Andenken seiner versklavten Großmutter gewidmet ist. Beide Werke vermitteln Themen wie Verlust und Hoffnung und schaffen eine Atmosphäre tiefer Besinnung.

Virtuosität, Spannung, Innovation

Seine Uraufführung erlebt ein Werk der Grammy-Preisträgerin Jessie Montgomery, das vom DSO gemeinsam mit dem Toronto Symphony Orchestra, dem Lincoln Center Festival, dem Aspen Music Festival und dem Utah Symphony Orchestra in Auftrag gegeben wurde; der aufregende, alle Genregrenzen sprengende südafrikanische Cellovirtuose Abel Selaocoe wird es als »Artist in Focus« spielen. Das DSO-Publikum kann mit Anthony Braxton zu Silvester und Neujahr auch einen der wagemutigsten experimentellen Komponisten der Welt erleben, dessen Werk sechs Opern sowie Orchester- und Kammermusikwerke umfasst. 

Afrodiasporische klassische Musik in Europa

Viele sind davon überrascht, dass einige afrodiasporische Komponist: innen auch Europäer:innen sind, oder das, was manchmal als »afropäisch« bezeichnet wird. In der Tat sind bei ›Afrodiaspora – Composing While Black‹ über Tonkünstler:innen aus den USA, Haiti, Nigeria und Südafrika hinaus auch etliche aus Frankreich, Schweden und dem Vereinigten Königreich vertreten. ›Wooden Bodies‹, das Streichquartett der schwedischen Komponistin Tebogo Monnakgotla, bietet ein dramaturgisches Wechselspiel zwischen den vier »Holzkörpern« des Streichquartetts, während die britische Komponistin Hannah Kendall die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels aufgreift – ein Thema, das auch für das europäische Publikum von zentralem historischen Interesse sein dürfte.

Afrodiasporische klassische Musik beim DSO

Diese Schwerpunktsetzung eines bedeutenden Orchesters wie des DSO auf Werke afrodiasporischer Komponist:innen während einer ganzen Spielzeit ist weltweit ohne Beispiel. Heute sind afrodiasporische Komponist:innen aktiver denn je, und es gibt noch viele weitere, die es in zukünftigen Spielzeiten zu entdecken gilt. Die Begegnung mit solch einer Vielfalt an Erfahrungen, Ästhetiken und musikalischen Praktiken ist ein willkommener Beitrag zu einer unglaublichen Bereicherung des historischen Kontexts, der intellektuellen Atmosphäre und der Hörerfahrung klassischer Musik. 

Harald Kisiedu und George E. Lewis

George E. Lewis, Foto: Maurice Weiss
Dr. Harald Kisiedu, Foto: Andrea Rothaug

George E. Lewis ist Komponist, Musikwissenschaftler, Posaunist und Professor an der Columbia University in New York City, Dr. Harald Kisiedu Musikwissenschaftler, Autor, Saxophonist und Dozent an der Hochschule Osnabrück. Beide haben 2023 gemeinsam den zweisprachigen Sammelband ›Composing While Black: Afrodiasporische Neue Musik Heute‹ (Wolke Verlag) herausgegeben.

Ausgewählte Konzerte ›Afrodiaspora – Composing While Black‹