Den Spielraum erweitern

Im September 2019 tritt Robin Ticciati seine dritte Saison als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin an. Mit den DSO-Nachrichten sprach er über die künstlerischen Vorhaben der Spielzeit 2019 | 2020.

Maestro, Sie gehen mit dem DSO in die dritte gemeinsame Saison. In den vorangegangenen Spielzeiten haben Sie vieles angestoßen, das nach Fortsetzung, Erweiterung, auch nach Kontrapunkten verlangt. Unter welche Zeichen stellen Sie die kommende Saison?

Hinter uns liegen zwei intensive Spielzeiten, sie waren reich an beflügelnden Erfahrungen. Jedes Projekt, das wir vollendet haben, setzte wieder neue Ideen in Gang. Musikalisch kommt es mir vor allem darauf an, die Klangqualität des Orchesters weiter zu verfeinern, das Ausdrucksspektrum noch vielfältiger und zugleich noch spezifischer für jedes einzelne Projekt auszuformen.

Sie setzen neue Repertoireakzente. Es bleibt das Engagement für aktuelle Musik, es bleiben die erhellenden Konstellationen von Neuem und Überliefertem in Ihren Programmen. Wo liegen Ihre inhaltlichen Schwerpunkte?

Antonín Dvořák räumen wir einen besonderen Platz ein. Er ist für mich das Beispiel eines Künstlers, der vom Erreichten aus immer weiter drängt. Seine Neunte Symphonie ›Aus der neuen Welt‹ klingt deutlich anders als seine Achte; in ihr erreichte er seine Vollendung auf diesem Gebiet; danach wandte er sich Tondichtungen und dem Musiktheater zu. Mit der konzertanten Aufführung der Oper ›Rusalka‹ eröffnen wir unsere Philharmonie-Saison S. 5. Mir geht es bei Dvořák auch um Zusammenhänge zwischen Volkstümlichem, das eine lange Tradition in sich birgt, und Streben nach künstlerisch Neuem. Dieses Verhältnis war ein Thema für die Romantiker, für Dvořák, aber auch für Komponisten wie Leoš Janáček und Béla Bartók: ein Thema auf dem Weg zur Moderne.

Dvořák komponierte seine Neunte in der Neuen Welt, den USA. Gehen Sie der transatlantischen Verbindung, die er verkörpert, nach?

Selbstverständlich. Fast drei Jahre lehrte Dvořák in New York und prägte das US-Musikleben vor allem an der Ostküste mit. Welcher Musik er begegnete, was er an amerikanischen Anregungen aufnahm und wie er seinerseits die Musikgeschichte der USA beeinflusste, das wollen wir an Beispielen hörbar machen. Dvořák schlägt für uns auch den Bogen von den ›Brahms-Perspektiven‹ und Wagner-Aufführungen der letzten Saison hinüber zur Musik aus den USA. Sie wird nach meinem Eindruck bislang nur in Segmenten, nicht in ihrer ganzen Breite wahrgenommen. Im Januar rahmen wir Dvořáks Neunte mit zwei Spirituals und schicken ihr Duke Ellingtons ›Harlem Suite‹ sowie ein hochinteressantes Stück  des jungen tschechischen, in Berlin lebenden Komponisten Ondřej  Adámek voraus. Dvořák steht hier wirklich zwischen dem Populären und der Moderne. Mit Aaron Coplands ›Appalachian Spring‹ greifen wir ein Werk auf, das Traditionen von Einwanderergruppen thematisiert, mit  Elliott Carter wenden wir uns einem Künstler zu, der das US-Musikleben fast ein Jahrhundert lang begleitete und antrieb, mit Andrew Norman stellen wir einen originellen Gegenwartskomponisten vor; ihm antworten Auszüge aus Dvořáks Slawischen Tänzen.

Foto: Alexander Gnädinger

 

In der vergangenen Saison legten Sie einen Schwerpunkt auf französisches Repertoire. Diese Linie wird in den Hintergrund treten …

... aber keineswegs verschwinden. Die Experimentierfreude von Hector Berlioz, die der Mentalität des DSO so treffend entspricht, beschäftigt uns weiter – nun mit der Dramatischen Legende ›La damnation de Faust‹. Nach ›Rusalka‹ wird sie unser zweites musikdramatisches Projekt sein.

Mit philharmoniegerechter Inszenierung?

Nein, diesmal nicht. Die ›Damnation‹ wurde zwar mehrfach inszeniert, aber wir verzichten wie bei ›Rusalka‹ auf eine szenische Aufbereitung, um die Aufmerksamkeit ganz auf die Musik zu konzentrieren. Es gibt in dieser Spielzeit keine räumlich-szenische Produktion wie den ›Messias‹ vor einem Jahr. Wir führen allerdings eine Sache fort, die wir damals erstmalig ausprobiert hatten. Die Streicher spielten auf Instrumenten mit Darmsaiten. Ich fand, dass das Orchester ganz anders klang als sonst,  dass es seine Möglichkeiten enorm erweiterte. Auf diesem Weg wollen wir weitergehen und im November die drei letzten Symphonien Mozarts, dieses instrumentale Oratorium, auf Darmsaiten spielen. Das wird  sicherlich eine neue Musizier- und Hörerfahrung.

Sie ergriffen in den vergangenen Jahren mehrere Initiativen, um die Wirkung des DSO über die Räume und Institutionen des tradierten Konzertlebens hinauszutragen. Wie wird es in der kommenden Spielzeit sein?

In dem Maße, wie ich das DSO und das Berliner Kulturleben genauer kennenlernen konnte, hat sich auch mein Gefühl für unsere soziale Verantwortung präzisiert. Drei Projekte sind mir in der kommenden Saison wichtig. Mit Sängerinnen und Sängern der Hochschule für Musik ›Hanns Eisler‹ erarbeiten wir Benjamin Brittens Kammeroper ›The Rape of Lucretia‹. In mehreren Vorsingen wählen wir die endgültige Besetzung aus, ab Herbst studiere ich mit Assistenten und Sprachcoaches das Stück ein. Die Streicher des Orchesters stellen unsere Akademistinnen und Akademisten, die Bläser kommen aus den Reihen des DSO. So wird, hoffen wir, eine ganz besondere Aufführung entstehen. Ebenso wichtig ist mir die Zusammenarbeit mit Berliner Schulen. In mehreren von ihnen widmen sich Mitglieder des DSO seit einigen Jahren gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern der Kammermusik. Ich komme in dieser Saison dazu und erarbeite mit allen Musizierenden den dritten Satz aus Dvořáks Achter.

Sie beginnen die Spielzeit mit einem Kammerkonzert …

... das die Saison wie in einem Nukleus enthält: mit Werken von Ondřej Adámek und Brett Dean, mit Dvořáks ›Romanze‹ und Beethovens ›Großer Fuge‹, dazwischen Lesungen von Beethovens ›Heiligenstädter Testament‹ und Texten zeitgenössischer Autoren. Es findet in einem der herrlichen Berliner Museen statt. In diesen Zonen der Ruhe, in denen sich Geschichte und Aktualität begegnen, führen wir seit zehn Jahren in Kooperation mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Kammermusik-
reihe ›Notturno‹ durch. Ähnlich wie der ›Symphonic Mob‹ S. 4 und die Casual Concerts bringen sie uns mit einem Publikum in Kontakt, das wir auf andere Weise so nicht erreicht hätten: eine kooperative Aktivität, mit der wir im ganz wörtlichen Sinn unsere Spielräume erweitern.

Die Fragen stellte HABAKUK TRABER.

Erschienen in den DSO-Nachrichten 09/10 2019.

Konzerte mit Robin Ticciati