Musik der Gegenwart als Chefsache

Im Herbst 2000 trat der Amerikaner Kent Nagano als fünfter Chefdirigent ans Pult des DSO. Mit ungewöhnlichen Kombinationen romantischer und zeitgenössischer Programme machte er Musik der Gegenwart zur Chefsache. Er eroberte das Berliner Publikum im Sturm und führte das Orchester zu vielbeachteten Operngastspielen nach Baden-Baden, Salzburg und Paris. Bei seinem Abschied 2006 ernannte ihn das DSO zum Ehrendirigenten.

Regelmäßig kehrt der Music Director des Orchestre symphonique de Montréal und Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper seitdem zu seinem Berliner Orchester zurück – die gemeinsame Einspielung von Kaija Saariahos Oper ›L’amour de loin‹ wurde 2011 mit einem Grammy ausgezeichnet.
 

Verbundenheit und Freundschaft

Kent Nagano über seine Zeit als Chefdirigent des DSO


Liebe Freundinnen und Freunde des DSO,

es war eine überwältigende Überraschung, als ich Anfang 1998 gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könne, mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin als dessen Chefdirigent zusammen zu arbeiten und Musik zu machen. Wow! Welch eine Herausforderung! Und in Berlin! Ich kannte damals kaum das deutsche Musikleben, auch wenn ich gelegentliche Konzerteinladungen hatte bzw. wiederholt zu den Proben des von mir ausserordentlich verehrten Günter Wand nach Hamburg fuhr und dabei dessen Freundschaft gewann.

Foto: Kasskara

Alles war Veränderung und Aufbruch in Berlin; vor allem aber: es war ein Wille zur Selbstbehauptung zu spüren, ein Wille, etwas Besonderes und Grossartiges zu leisten. Das war auch gefordert; denn die Verhältnisse gehorchten keineswegs klaren und positiven Zeichen. Das Wort »Veränderung« liess vielfach Ängste bei den Musikern aufkommen; und diese waren spürbar. Die Hochstimmung aus der Zeit nach der historischen »Wende« schien vorbei. Doch vielleicht mobilisierte genau dies unsere Phantasie, unsere Kraft und Bereitschaft. Da war Aufbruch, und der brachte Zuversicht und mehr und mehr Vertrauen – trotz gewisser Schwierigkeiten.

Denke ich an diese Zeit zurück, dann zieht ein Leuchten durch mein Herz. Soviel Verbundenheit und Freundschaften, soviel Vertrauen und Erlebnisse des Besonderen und tatsächlich Einmaligen, soviel Gewinn und Freude! Heute erscheint mir der kulturelle Status Berlins gefestigter als damals und zugleich lebendig und frisch, wie immer wieder neu erfunden. Das ist eine Leistung dieser Stadt und ihrer Menschen, die hier leben. Sie bezeugt sehr eindrucksvoll, was Kultur »wert« sein kann und auch ist, wenn sie mit gesellschaftlicher Verantwortung verbunden ist.

»Denke ich an meine Zeit als Chef­dirigent zurück, dann zieht ein Leuchten durch mein Herz.«

Kent Nagano

Wenn ich heute nach Berlin komme zu meinen Musikerinnen und Musikern des DSO, drängen sich aber auch andere Gedanken in den Vordergrund, gerade angesichts der blühenden Kultur. Wieder liegt da »Veränderung« in der Luft – doch anders als vor siebzehn Jahren. Die Welt um uns scheint aus den Fugen geraten, Konflikte, Radikalisierungen, Ströme von Flüchtlingen, Feindschaften, blutige Kämpfe, Brutalitäten ohnegleichen, Unsicherheiten, Hilferufe allenthalben! Wohin treibt der Kampf der Kulturen zwischen dem Islam und dem Westen? Und wohin führen die Aufrüstungen im Osten und Westen? Es schmerzt die Vorstellung, wohin das führen kann.

Und wir Musiker...! Was können wir tun für Frieden und Freiheit, für die vielen Heimatlosen und auch für die vielen Verunsicherten und Ratlosen hier und andernorts? Die Musik, die wir spielen und in Konzerten aufführen, enthält ja tatsächlich eine grandiose Botschaft, nämlich die der tiefen Sehnsucht nach Frieden, nach Versöhnung, nach einem Leben im Miteinander und in gegenseitiger Achtung und Respekt voreinander. Unser Orchester, das DSO, wie jedes andere Orchester auch auf diesem Globus ist ein lebendiges Beispiel dessen, was Leben unter Menschen und in Gemeinschaft ist. Die Musik, die wir musizieren, ist grossteils viele Generationen alt. Sie hat Menschen in schlechten und katastrophalen Zeiten geholfen, hat sie glauben lassen, dass es noch etwas anderes gibt als beängstigende Schattenwelten. Diese Musik hat immer wieder überlebt und hat den Menschen, die sich ihr öffneten, immer wieder neuen Mut gemacht und Hoffnungen geschenkt. Das ist ihre Grösse und ist ihre Macht. Ihr sich in den Dienst zu stellen macht einen tiefen Sinn, weil diese Macht der Musik dem Frieden und dem Leben der Menschen in Freiheit und Würde dient.

Herzlichst, Ihr
Kent Nagano
Ehrendirigent des DSO
 

Foto: Felix Broede

Biografie

Seit der Spielzeit 2015/2016 ist Kent Nagano Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Hamburgischen Staatsoper und Hamburgischer Generalmusikdirektor des Philharmonischen Staatsorchesters. Zudem war er von 2006 bis 2020 Music Director des Orchestre symphonique de Montréal und wurde im Februar 2021 zum Ehrendirigent ernannt wie ebenfalls 2019 vom Concerto Köln. Von 2006 bis 2013 wirkte er an der Bayerischen Staatsoper als Generalmusikdirektor nachdem er von 2000–2006 als Chefdirigent des DSO wirkte, dem er seitdem als Ehrendirigent verbunden ist. 2003–2006  war er Music Director der Los Angeles Opera. Als Chefdirigent unternahm er mit seinen Orchestern ausgedehnte Tourneen nach Kanada, Japan, Südkorea, Europa, Südamerika und durch die USA.

Höhepunkte der vergangenen Spielzeiten in Hamburg waren u. a. Opernproduktionen wie ›Les Troyens‹, ›Lulu‹, die Uraufführungen ›Stilles Meer‹ und ›Lessons in Love and Violence‹.

Kent Nagano hat sich um eine Vielzahl von Uraufführungen verdient gemacht; darunter das Oratorium ›Arche‹ von Jörg Widmann anlässlich der Elbphilharmonie-Eröffnung im Januar 2017 sowie ›Waves‹ von Pascal Dusapins. Im Oktober 2016 brachte er in Montréal eine Auftragskomposition von José Evangelista zum 50. Jahrestag der Metro Montréal zur Uraufführung. In der Bayerischen Staatsoper hob er die Opern ›Babylon‹ von Jörg Widmann, ›Das Gehege‹ von Wolfgang Rihm und ›Alice in Wonderland‹ von Unsuk Chin aus der Taufe sowie mit anderen Orchestern Bernsteins ›A White House Cantata‹ sowie ›Three Sisters‹ von Peter Eötvös, ›The Death of Klinghoffer‹ und El Niño von John Adams.

Als Gastdirigent arbeitet Kent Nagano weltweit mit international führenden Orchestern, u.a. mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, den Münchner Philharmonikern, dem London Symphony Orchestra, dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem NHK Symphony Orchestra, dem Chicago Symphony Orchestra und dem Ensemble Modern.

Mit einer Vielzahl an Labels pflegt Kent Nagano eine lange Zusammenarbeit. Für seine Aufnahmen von Busonis ›Doktor Faust‹ mit der Opéra National de Lyon, Prokofjews ›Peter und der Wolf‹ mit dem Russian National Orchestra sowie Saariahos ›L’amour de loin‹ mit dem DSO Berlin wurde er mit Grammys ausgezeichnet. Im Oktober 2019 erschien die Einspielung von John Adams’ ›Common tones in simple time & Harmonielehre‹ sowie die CD-Box aller Klavierkonzerte Beethovens, inklusive des Nullten Klavierkonzerts und dem Rondo für Klavier und Orchester, gemeinsam mit Mari Kodama und dem DSO Berlin.

Kent Nagano ist Ehrendoktor der McGill University in Montréal, der Université de Montréal sowie der San Francisco State University.