Geblendet von Klangfarben

Andrew Manze über seine Konzerte am 03. + 04.05.2019

 

Seit fast zwanzig Jahren ist der britische Dirigent Andrew Manze ein gern gesehener Gast am Pult des DSO. Nach Studien der Altphilologie und der Violine wurde er schnell zu einem der führenden, vielfach preisgekrönten Spezialisten der historischen Aufführungspraxis. Heute pflegt er als Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie Hannover und Principal Guest Conductor des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra ein breites Repertoire. Am 3. und 4. Mai kehrt er mit Carl Nielsens Vierter Symphonie zum DSO zurück, am ersten Abend auch als Moderator des Casual Concert.

Herr Manze, 1999 waren Sie erstmals beim DSO zu Gast, mit einem Bach- und Mozart-Programm, in dem Sie auch als Violinist auftraten. Seitdem sind Sie regelmäßig am Pult des Orchesters zu erleben. Wie hat sich der Dirigent Andrew Manze in dieser Zeit verändert?

1999 war ich zu 80 % Geiger, zu 20 % Dirigent. Heute ist das Verhältnis 0 % zu 100 %. Aber ich bin derselbe Musiker geblieben, etwas älter und weiser – so hoffe ich zumindest.

Als Geiger waren Sie ein wichtiges Mitglied der Alte-Musik-Bewegung. Nachdem Sie die Violine für das Dirigieren aufgaben, hieß es, Sie stünden nicht mehr auf bestem Fuße mit der Szene. Woran liegt das?

So würde ich das nicht sagen, ich habe einfach keinen Kontakt mehr zu den Ensembles der Alten Musik, weder als Künstler, noch als Zuhörer. Heute habe ich ein viel größeres Repertoire und begegne Musikern, die ich als Barockgeiger nie getroffen hätte. Manchmal treffe ich sogar Komponisten – das ist mir in meinen Alte-Musik-Zeiten nie passiert!

Das Verhältnis zwischen Dirigenten und Orchestern hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Wie verstehen Sie Ihre Rolle als Dirigent?

Die Rolle ist wahrscheinlich immer noch dieselbe wie früher – dem Orchester zu helfen, eine Aufführung zu erschaffen, die es dem Publikum erlaubt, die Musik zu verstehen –, aber die Beziehung zu den Mitmusikern hat sich weiterentwickelt. Manche Leute denken vielleicht, der Dirigent bringt Ego und Taktstock auf die Bühne und fängt an zu schlagen. Für mich geht es beim Dirigieren aber um Vorbereitung, um Vertrauen, um Psychologie bei der Probe und um das Zuhören – den Musikern und einem selbst.

Im vergangenen Jahr haben Sie einen Zyklus mit den Beethoven-Klavierkonzerten begonnen, gemeinsam mit dem Berliner Pianisten
Martin Helmchen. Warum mit ihm?

Martin hatte mich vor ein paar Jahren kontaktiert, weil er so eine Ahnung hatte, dass wir beide gut zusammenpassen. Und ich bin darüber sehr froh, denn er hatte absolut Recht. Er ist ein wunderbarer Pianist, ein umsichtiger Musiker und – da er nicht nur in der Solistenrolle, sondern auch in der Kammermusik zu Hauses ist – ein exzellenter Kollege auf der Bühne, und sehr vergnüglich hinter der Bühne.

Am 4. Mai ist das Vierte Klavierkonzert Beethovens zu hören, das erste seiner Art, das wirklich symphonisch gedacht ist. Dabei ist der Anfang sehr ungewöhnlich: Das Klavier beginnt ganz alleine, verhalten, fast vorsichtig. Wie wirkt das auf Sie?

Ich denke, Beethoven wollte, dass der Hörer den Anfang des Konzerts wie eine Improvisation hört – man vergleiche es mit dem Anfang seiner ›Kreutzer-Sonate‹. So ein Vorspiel gehörte zur gängigen Praxis bei Konzerten im privaten Rahmen, aber Beethoven bringt es hier auf die Orchesterbühne. Der Pianist improvisiert eine Phrase, und das Orchester antwortet darauf! Der erste von vielen Geniestreichen in diesem Konzert. Vielleicht war Beethoven der erste Komponist, der nicht nur das Publikum bezauberte, indem er aufregende Neuerungen neben dem wohlig Bekannten servierte, sondern auch die Künstler selbst.

Sie stellen Beethovens Klavierkonzerten jeweils hochinteressante, selten gespielte Symphonien gegenüber: Zuletzt Waltons Erste, im nächsten Jahr Vaughan Williams’ ›Antarctica‹, und jetzt die Vierte Symphonie von Carl Nielsen. Er schrieb sie 1916, während des Ersten Weltkriegs, gab ihr den Beinamen ›Das Unauslöschliche‹ und bemerkte dazu: »Das Leben ist unbezähmbar und unauslöschlich; der Kampf, das Ringen, das Werden und Vergehen setzen sich fort heute wie morgen [...] Musik ist Leben, und wie dieses unauslöschlich.« Wie setzt er dieses Motto in Töne?

Nielsens Musik bringt ihre ganz eigene kreative Kraft mit sich. Die Vierte  Symphonie beginnt mit einer Explosion melodischer Fragmente, denen Nielsen dann nachspürt, wenn sie sich in neues Material entwickeln – manchmal stabil, dann wieder weniger. Es gibt vier Sätze, die miteinander verbunden sind, aber die Struktur innerhalb der Sätze folgt keinen Konventionen, denn sie entsteht aus dem Material, und nicht nach einem vorgegebenen Plan. Und obgleich es schmerzliche Momente gibt, musikalische Entsprechungen zu Edvard Munchs ›Der Schrei‹, hat die Entwicklung durchaus vergnügliche Seiten und der letzte Eindruck ist ein optimistischer. Ich habe die Vierte zum ersten Mal mit 15 Jahren gehört und war geradezu geblendet von ihren Klangfarben. Nun, da ich vertrauter mit ihr bin, habe ich viele Lieblingsecken darin entdeckt. Doch selbst, wenn man sie nur einmal hört, wird man die Aufwallungen des ersten und des letzten Satzes nie mehr vergessen.


Sie haben vor sieben Jahren schon einmal ein Casual Concert geleitet. Am 3. Mai werden Sie die Vierte von Nielsen als Dirigent und Moderator vorstellen. Wie wichtig ist Ihnen das Sprechen über Musik?

Ich spreche seit vielen Jahren über Musik, in Konzerten, im Radio und im Fernsehen. Das ist für mich aber keine »Education«. Ich teile einfach Dinge mit dem Publikum, die ich an der Musik, am Leben und im Denken eines Komponisten interessant finde. Ich möchte damit den Zuhörern und den Kollegen im Orchester dabei helfen, einen Zugang zu unbekannter Musik zu finden, oder eine unverbrauchte Perspektive zu bekanntem Repertoire anbieten. Bei einem Publikum wie dem der Casual Concerts des DSO macht das besonders viel Spaß, denn es ist offen für alles.

Die Fragen stellte MAXIMILIAN RAUSCHER.