Olga Hohmann besucht seit neuestem Konzerte, am liebsten in Begleitung eines +1. Mit dem berühmten Bus M29 fährt sie in Abendgarderobe in die Philharmonie und beschäftigt sich eine Spielzeit lang aus der Zuschauer:innenperspektive mit den Eigenheiten des Orchesters sowie des Publikums selbst. Denn: Auch vor den Kulissen spielt sich vieles ab, was häufig ungesehen bleibt.

28.01.2024: Schwarze Tränen

Es geschieht fast nie, aber wenn es passiert, dann mit Gewalt. Ich erinnere mich noch genau an das erste Mal – und neulich in der Philharmonie geschah es wieder: Ein musikalisches Ereignis rührte mich zu Tränen. Das erste Mal war es ebenfalls ein Symphoniekonzert, in diesem Fall in Leipzig, und ich war etwa fünfzehn Jahre alt. Das Gefühl fing in den Füßen an und wanderte dann die Arme hoch, zuerst in Form von Gänsehaut, dann ein Beben, und irgendwann fing ich so laut an zu schluchzen, dass die Leute in der Reihe vor mir sich umdrehten und die Zeigefinger auf die Lippen legten. Ich nickte ihnen beschwichtigend zu, der Tränenfilm auf meinen Augen ließ mich sie nur schemenhaft erkennen, und versuchte, meinen Ausbruch wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber er war hartnäckiger, als ich dachte. Ich erinnere mich gut an den Anblick meines eigenen Gesichtes in der Pause – mein Spiegelbild war überzogenen von tiefschwarzen Streifen. Ich hatte selbst vergessen gehabt, dass mein Mascara nicht wasserfest war. 

In diesem Fall war es ein Trompetensolo, das mich zum Weinen brachte. Es war die Körperhaftigkeit dieses pfeifenden, singenden, trötenden In strumentes und die Virtuosität des Solisten, die ans Groteske grenzte, und damit noch schillernder wurde. Es war die Tatsache, dass das Orchester so empathisch und großzügig war in ihrem Spiel, dass diese riesige Menge an Menschen völlig selbstlos und uneitel diesen einen Einzelnen unterstützte, trug regelrecht, wie eine Materie, Wasser oder Luft. Es war die Tatsache, dass Menschen, klitzekleine Geschöpfe, sich in ihrem kurzen Leben auf der Welt die Zeit damit vertrieben, solche ganz und gar unnützen und damit umso göttlicheren Werke zu verfassen. An diesem Abend war es geistliche Musik gewesen, die mich zum Weinen gebracht hatte, Johann Sebastian Bach, und ich hatte geglaubt zu verstehen, dass eine höhere Macht existierte, weil Menschen ihr solche Klänge widmeten – dass »Gott« (welcher auch immer) in der Musik selbst existierte. Dieses Mal war es die genreübergreifende Komposition einer in der Gegenwart lebenden Frau, die mich zu Tränen rührte. Der Mut, den es bedarf, um angstfrei zu zitieren, um sich zu bedienen an den musikalischen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte. Ich dachte an meine Freundin, die sofort Tränen in den Augen hatte, als sie erstmals eine weibliche Dirigentin sah – und ich selbst war gerührt von der Normalität, der Ernsthaftigkeit und Nebensächlichkeit, mit der die Komposition einer weiblichen Komponistin aufgeführt wurde, ohne dass diese Eigenschaft (eine Frau zu sein) noch einmal erwähnt und markiert werden musste. In die Jazzklänge mischte sich Handels ›Lascia ch’io pianga‹, und ich heulte mich fröhlich und erleichtert aus, anders als damals in Leipzig, und dachte daran, dass man »Lasst mich einfach weinen« auch emanzipatorisch lesen kann.

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17.12.2023: Stillhalten

Ich erinnere mich gut daran, wie schwer es als Kind war, im Konzert still zu sitzen. Sobald ich den Saal betrat, wurde mir meine eigene körperliche Präsenz im Raum überdeutlich, sie drängte sich nahezu auf. In dem Moment, in dem die Musiker:innen zu spielen anfingen, empfand ich sofort einen Husten- oder zumindest einen Hüstelreiz, das Knistern der Daunenjacke auf der Lehne hinter mir erschien mir mehrfach so laut wie in allen anderen sozialen Situationen, ebenso wie das raschelnde Programmheft in meinen Händen (ein Lob an dieser Stelle an die ausgezeichnete Wahl des DSO-Programmheftpapiers, das man auch während des Konzertes geräuschlos  umblättern kann). Im heiligen Raum der Musik galt das Gebot der Stille. In seiner Omnipräsenz wurde es unmöglich, still zu sitzen, zu halten, zu sein und plötzlich zu einer unlösbaren Aufgabe.

Seit ich denken kann, habe ich immer einen Frosch im Hals, medizinisch nennt man das einen Globus Hystericus. Der Weltball steckt im Rachen fest. Ich habe ihn von meinem Vater geerbt, der sich regelmäßig räuspert. Wenn ich so ein Räuspern höre, wird es ganz warm in mir – es ist ein Geräusch, das ich mit »Zuhause« assoziiere.  Dennoch: In dem Moment, in dem ich einen Konzertsaal betrat, fühlte ich mich, als würde der Globus in mir auf seine doppelte Größe anschwellen und das musikalische Erlebnis überschatten. Ich scheine aber nicht die einzige mit diesem Problem zu sein. Die Philharmonie hat, neben dem obligatorischen Glas Sekt und den Canapés, immer mal wieder auch Hustenbonbons im Angebot. Und natürlich hört man in den Pausen, den kurzen und den längeren, das plötzliche Hereinbrechen des Hust-Konzerts ebenso wie das begleitende Rascheln der Ricolas und Em-eukals auf den Plätzen neben einem, das dann, wenn die Musik wieder ansetzt, verschwindet. Nichtsdestotrotz: Es scheint mir wie ein Wunder, aber seit ich regelmäßig in die Philharmonie gehe, ist mein Globus Hystericus verschwunden – zumindest zieht er sich momentweise zurück. Nichts läge mir ferner, als mich mit meiner eigenen weltlichen Somatik zu beschäftigen, wenn zum Beispiel das Trompeten-Solo in Olga Neuwirths ›… miramondo multiplo …‹ erklingt. Das Erlebnis ist, wie man sagt, »otherworldly«, der ganze Raum hält, unbewusst, in Hochspannung die Luft an und atmet erst, gemeinsam, nach dem letzten Ton aus. Die Geschichte, die das Orchester erzählt, geht durch diverse  narrative Höhe- und Tiefpunkte, es sind Naturgewalten, die auf uns einprasseln und uns entgeistert uns selbst vergessen lassen. Musik kann also kurieren, sie kann ganz buchstäblich Schmerzen lindern und uns unsere eigenen Ticks und Marotten vergessen lassen – denn wir können uns ihr ganz hingeben, und das ist immer auch ein körperliches Erlebnis. Ob man es nun entspannt zurückgelehnt oder mit weit geöffneten Augen auf der Sitzkante erlebt.

02.12.2023: Erhabenes Musizieren

Schon wieder war ich zu spät dran. Ich hechtete an dem Straßenmusiker vorbei, der immer die ›Star Wars‹-Melodie spielt – und vermutlich insgeheim hofft, vom Chefdirigenten entdeckt zu werden – und traf genau zwei Minuten vor acht am Ort ein, an dem ich mit meinem +1 zusammentreffen wollte: Den beiden riesigen goldenen Glocken im Foyer. Was genau es mit diesen Glocken auf sich hat, weiß ich tatsächlich noch immer nicht, aber sie sind ungefähr so groß wie ich selbst und eignen sich hervorragend dafür, sich vor ihnen zu verabreden, ein bisschen so wie die Skulptur ›Tanzendes Paar‹ auf dem Hermannplatz. Die Toilettenschlange war, wie immer, erschreckend lang – die Wartezeit magischerweise aber, das war ich ebenfalls schon gewohnt, sehr kurz. Dann begann das Konzert. Dieses Mal war es, damit kann man nicht rechnen, wirklich einer dieser Momente, die »otherworldly« sind. Die Solistin spielte so nuanciert, humorvoll und düster, dass man das Gefühl hatte, in einem intimen, sprachlosen Gespräch mit ihr zu sein. Ihr Spiel überschritt alles, was man im profanen Sinne ausdrücken kann und war gleichzeitig so menschlich und nahbar, dass man sich ihm nicht entziehen konnte. Sie schwamm als Schaumkrone auf einem Bett aus Wellen, das das Orchester ihr bereitete – musizieren ist Teamsport, kein Wettkampf, das stand für mich fest. Der Moment war so heilig, dass ich mich nicht mal traute, eine Notiz zu machen – ich war vollkommen absorbiert von dem Klang und gleichzeitig gespannt wie bei einem Blockbuster: Was wohl als nächstes geschehen würde? »Das Erhabene«, lerne ich, ist ein Moment, in dem man sich sicher und bedroht gleichzeitig fühlt – das Betrachtete übersteigt das eigene »Fassungsvermögen«, es ist kaum begreiflich – gleichzeitig kann man sich ihm nicht entziehen.

Bei Immanuel Kant wird das Betrachten eines Eisbergs beispielhaft für eine Erfahrung des Erhabenen beschrieben – ein Konzept, das sich heutzutage nicht mehr einlöst, denn der schmelzende Eisberg ist natürlich kausal mit dem ihn betrachtenden Subjekt verbunden. Ein ähnliches Phänomen, wie wenn man feststellt, dass »übers Wetter reden« kein Smalltalk-Thema mehr ist. Wenn man das »Erhabene« (im Englischen: sublime, was psychoanalytisch noch viel mehr Ebenen hat) also nicht mehr in der Natur finden kann, dachte ich, muss man es vielleicht tatsächlich in der Musik suchen. Als das knapp einstündige Solo vorbei war (ich hatte den Raum noch nie so still erlebt, man hätte eine Nadel fallen hören können), musste ich mich erst einmal erholen. Ich fühlte mich, im besten Sinne, zerzaust – durchgeschüttelt von der unerwarteten Grenzerfahrung. In die Philharmo- nie zu gehen, ist nunmehr keine angenehme Sonntagabendbeschäftigung mehr für mich, es fühlt sich seit diesem Erlebnis regelrecht gefährlich an. Denn man weiß ja nicht, was einen dort an Grenzerfahrungen erwarten wird.

23.11.2023: Die Sehnsucht nach Störung

Schon seit meiner Kindheit habe ich Zwangsvorstellungen. Sie setzen immer dann ein, wenn ich in einem großen Raum bin, in dem sich noch viele weitere Menschen befinden. Am schlimmsten ist es, wenn es sich um einen Raum handelt, in dem man still sein soll, beziehungsweise, in dem, durch die vorherrschende Konvention, klar geregelt ist, wer Geräusche machen darf und wer nicht. Die Zwangsvorstellungen unterscheiden sich leicht und sind jeweils spezifisch für die jeweilige Öffentlichkeit. Sitze ich im Restaurant, zum Beispiel bei Sale e Tabacchi auf der Rudi-Dutschke-Straße, wo die Decken hoch sind und immer mindestens eine prominente Persönlichkeit anwesend, stelle ich mir vor, mich zu entblößen. Nicht, weil ich das unbedingt will, sondern weil ich weiß, dass
es die Situation im Raum radikal verändern würde, von einem Augenblick auf den nächsten. So selbstverständlich wie es in anderen Kontexten ist, sich nackt auszuziehen, so verboten (und deshalb reizvoll), ist es in diesem.

Im Konzert habe ich eine andere Vorstellung, die ich nicht loswerde: Ich muss mir immer vorstellen, laut mitzusingen. Der Wunsch nach einer solchen Überschreitungshandlung wird manchmal so stark, dass ich die Wangen einziehen und sehr bewusst atmen muss, um ihn zu unterdrücken. Die Idee einer Störung des heiligen Raumes der Musik ist so reizvoll, dass es mich ganz nervös macht. Und dabei spielt die Virtuosität der Musiker:innen auf der Bühne keine besondere Rolle. Ich möchte nichts unterbrechen, weil es mir nicht gefällt – im Gegenteil: Die Expertise und professionelle Versunkenheit der Spielenden stellen den heiligen Rahmen erst her in dem jene Unterbrechung, als Ausbruch, erst gedacht werden kann. Im M29er sitzend, vorbei am Sale e Tabacchi zur Philharmonie fahrend, nehme ich mir also erneut vor, heute wieder einmal dem Drang des lauten Mitsingens zu widerstehen. Und natürlich ziehe ich, wie seit über zwanzig Jahren, die Wangen ein und widerstehe ihm. Statt meiner geht dann aber ein Mann im Rang einem ähnlichen Wunsch nach – nach dem Cello-Solo beschwert er sich lautstark und unterstreicht damit die intime Atmosphäre, die in dem Konzertsaal herrscht. Eine andere Besucherin – ganz eindeutig eine der Abonnentinnen aus dem fantastischen Block A, in dem wir uns wie Stammkundinnen begrüßen – erkundigt sich nach dem Konzert persönlich bei einem Musiker nach dem neuen Kollegen am Kontrabass. Dieser antwortet ganz selbstverständlich. Diese Vertrautheit im riesengroßen Saal führt tatsächlich dazu, dass mein Wunsch nach einer Störung kleiner wird. Denn: Je möglicher die Unterbrechung scheint, desto weniger reizvoll ist die Vorstellung für mich, die aufrechterhaltene Spannung aus dem Gleichgewicht zu bringen, das Dispositiv des Raumes in Frage zu stellen.

17.11.2023: Knurrende Mägen

Eigentlich hatte ich vor dem Konzert noch etwas essen wollen, aber mich dann stattdessen für den Mittagsschlaf entschieden, der wiederum auch schwerfiel. Während ich im abgedunkelten Zimmer im Halbschlaf lag, dachte ich an die Liedzeile: »Too tired to eat, too hungry to sleep.« Gerade noch rechtzeitig war ich angekommen, mein +1 hatte sich aus akutem Anlass aus der Affäre gezogen, und ich wankte, übermüdet und hungrig, erst an den Teletubbie-Hügeln auf der Seite der Potsdamer Straße vorbei und dann an dem virtuosen Straßenmusiker direkt vor der Philharmonie. Ich begriff in diesem Moment, dass der Eingang, von dem ich seit jeher annahm, es sei der Haupteingang zur Philharmonie (denn ich komme ja von der Kreuzberg-Seite), eigentlich der Hintereingang ist. Auch die mit Käse überbackenen Brezeln werden vorn verkauft – und so verpasste ich sie und fand mich mit knurrendem Magen auf meinem fantastischen Stammplatz im Block A wieder. Direkt in der Reihe vor mir saß erneut der Mann im »Comme des Garçon PLAY«-Shirt (nun in einer anderen Farbe) und schaute mich abermals vorwurfsvoll an: Ich hatte zwar niemanden zum Flüstern gehabt, stattdessen führte mein Magen Selbstgespräche. Und ich wusste nicht, was ich dagegen tun konnte. 

Zum Glück war die abendliche Symphonie eher im forte – nur leider kam der Gesang, auf den ich mich gefreut hatte, erst im letzten Teil des Konzerts dran. Stattdessen betrachtete ich fasziniert den Chor, der stocksteif eineinhalb Stunden wartend auf seinen Stühlen saß, still sinnierend ins Publikum schauend, buchstäblich auf dem Präsentierteller. Keine:r der Chorsänger:innen räusperte sich oder kratzte sich auch nur an der Nase. Unmittelbar fragte ich mich, wie sie wohl damit umgehen würden, hätten sie mein Problem: Ein Magen, der so laut knurrte, dass er alle Umsitzenden störte. Ich schaute den Chor an und der Chor schaute, meditativ zuhörend, zurück. Als er dran war, stand er geschlossen auf und fing, makellos und klar, an zu singen. Hätte ich so lange geschwiegen, hätte ich mich sicher intuitiv erst einmal meiner eigenen Stimme versichern müssen. Nur der Mann neben mir schien sich nicht von meinem Problem gestört zu fühlen – oder mein kommunikatives Organ hatte ihn ermuntert, ebenfalls mit mir Kontakt aufzunehmen. Jedenfalls sprach er mich direkt nach dem Konzert an und fragte mich, wofür ich schreiben würde. Ich zeigte ihm, wortlos und stolz, mein eigenes Gesicht auf der letzten Seite des Programmhefts. Er war beeindruckt genug, um noch ein Bier mit mir zu trinken, am silbernen Wagen direkt vor den TeletubbieHügeln, wo, durch den Bühneneingang, auch der jetzt nicht mehr schweigsame Chor herauskam und sich, durcheinanderschnatternd, zu uns gesellte.
 

05.11.2023: Menschen als Instrumente

»Wenn du ein Instrument wärst, wärst du ein Cello«, sage ich zu meiner Freundin, die neben mir auf den fantastischen Plätzen im Block A sitzt, nach dem beeindruckenden Cello-Solo in der Komposition von Brett Dean. Sie wisse gar nicht, was ich meine, sagt sie, denn sie wäre ja ein Mensch, kein Musikinstrument – und natürlich hat sie Recht. Trotzdem trage ich die Frage noch ein wenig in mir herum, wende sie im Kopf hin und her, lasse sie widerhallen. Die Menschen, denen man im Block A begegnet, sind häufig dieselben. Man nickt sich, wissend und versonnen, zur Begrüßung zu, registriert kurz die, nur leicht variierenden, Outfits und Frisuren, und wendet sich dann wieder den eigenen Gedanken und Träumereien zu – ein bisschen so wie Stammgäste, die am Tresen hocken und auf die schwindenden Oberflächen ihrer Getränke schauen. »Psssst«, macht ein Gast im »Comme des Garçon PLAY«-Shirt mit dem aufgestickten Herz auf der Brust in der Reihe vor uns, als wir flüsternd die Frage nach der Identifikation mit dem Musikinstrument besprechend. Flüstern, lerne ich, ist durch die erzeugten Zischlaute noch störender als tiefes Raunen. Das Cello-Solo hatte mich, wie Musik es ab und zu tut, auf eine regelrechte Reise befördert. Es fühlte sich beinah so an wie das Rauschen der Großstadt, die sonst, auf dem Fahrrad sitzend, an mir vorbeizieht – ein Zustand, den ich, wenn der Herbst kommt und ich weniger und weniger schnell Fahrrad fahre (weil der Fahrtwind so kalt ist), sofort vermisse. Es scheint mir der einzige, irgendwie meditative Moment am Tag zu sein, in dem die »Stimmen im Kopf« endlich aufhören, durcheinander zu sprechen; sie werden übertönt von der buchstäblichen, vielstimmen »Symphonie der Großstadt«. Der Verkehr in der Stadt ist zum Glück immer lauter als der Verkehr im eigenen Hirn.

Auch die Instrumente, ob man sie nun animistisch »vermenschlicht« oder nicht, kommen mir vor, als wären sie in ein Gespräch versunken; ein intensives Für- und Wider einer großen Familie beim Abendbrot – oder als hätten die Stammgäste am Tresen zufällig doch mal von den Oberflächen ihrer Getränke aufgeblickt und wären ins Gespräch gekommen, vermutlich über Tagespolitik. Die Frage nach der Identifikation mit einzelnen Instrumenten bespreche ich dann noch mal ein paar Tage später, als ich die Kinder der Freundin von der Musikschule abhole – neunjährige Zwillinge. Die eine trägt ihr Cello, die andere ihre Bratsche auf dem Rücken. Jeweils identifizieren sie sich genau mit dem Instrument, das sie spielen. Zwischen Bratsche und Cello spaziere ich also über den Winterfeldtplatz und sage: »Ich glaube, ich bin eine Trompete.« Die beiden sind sich (ungewöhnlicherweise) sofort einig: »Nein, wir kriegen eher so Klarinetten-Vibes von dir.« Stolz spaziere ich zwischen ihnen her, betrachte mein Gesicht kurz in einem Autospiegel und höre innerlich sofort die raunende, aber bewegliche Stimme der Klarinette.

22.10.2023: Die Stimme erheben

Endlich Gesang!, denke ich als ich, krank im Bett, das Programm des DSO durchsehe und mich damit beschäftige, auf welche Konzerte ich mich in den nächsten Wochen freuen darf. Die Freude auf den Abend steigert sich für mich sofort – denn es ist dieses seltsam unsichtbare, im Körper des Menschen wohnende Instrument, die Stimme, das mir das liebste von allen ist. Wenn man Sänger:innen dabei zusieht, wie sie jene (für Laien aberwitzig klingenden) Töne hervorbringen, hat das immer auch einen fast voyeuristischen Charakter. Denn: Wie kann ein Menschenkörper sich, auf immaterielle Weise, so radikal im Raum ausbreiten, bis, wie man sagt, »die Wände wackeln«.

Es ist kein Zufall, dass in politischen Zusammenhängen, die Formulierung des »Stimme-Erhebens« oder »jemandem eine Stimme-Gebens« als etwas Empowerndes gilt: Stimme – egal ob geschrien, gerufen, gesprochen oder gesungen wird – nimmt Raum ein, definiert ihn und verändert ihn damit. Und dabei ist für Sängerinn:en selbst ihre Stimme nie so hörbar, wie sie es für die Zuhörer:innen ist – der Resonanzraum (die singende Person) kann sich selbst nicht zuhören und muss stattdessen spüren, ob sie den richtigen Ton trifft. Als Sänger:in muss man vertrauen in den eigenen (Resonanz)Körper haben und auch einen gesunden Pragmatismus. Denn: Resonanz erzeugt man ja nie allein, es ist eine Feedback-Schleife. Die eigene Stimme kommt anders zu einem zurück als man sie losgelassen hat. Es ist ironisch,  dass ich gerade jetzt so intensiv über die Stimme als Medium nachdenke, denn ich habe meine eigene gerade verloren. Wenn ich den Mund aufmache, um zum Sprechen anzusetzen, kommt nur ein leises Pfeifgeräusch (aus der Lunge) zum Vorschein, aus dem Mundraum ein hauchiges Krächzen. Die Stimme zu verlieren, verunsichert mich zutiefst – es ist, als ob mir ein Sinn fehlen würde. Auf das Riechen zu verzichten wäre mir, zum Beispiel, lieber – obwohl der Geruch ja bei der Partner:innenwahl ausschlaggebend sein soll. Das Sprechorgan zu verlieren, ist also eine meiner größten Ängste – gleichzeitig passiert es mir häufiger als anderen, es ist meine wertvolle Achillesferse. Nicht auszudenken, unter welcher psychischen Belastung professionelle Sänger:innen stehen! Man sagt ja, dass die Stimme kurz vor ihrem Niedergang (durch Erkältung oder auch den Stimmwechsel in Teenagerjahren) besonders schön klingt, eine Art Schwanengesang. Ihr Verlust erfolgt häufig blitzartig, innerhalb weniger Stunden. Eine Freundin schreibt mir per SMS, es soll beruhigend sein: »Die Stimme kommt schon wieder, es ist bloß die Frage, wie sie dann klingt.« Im Bett sitzend freue ich mich jedenfalls, »Freude, schöner Götterfunken«, Beethovens Neunte, einmal aus dem Vollen geschöpft in einer geschmackvollen Version live geschmettert zu hören statt, in leicht sentimentaler Weise, immer nur um Mitternacht im Radio.

15.10.2023: Kleider machen Anlässe

Manchmal ist ein Outfit da, bevor sich die Gelegenheit ergibt, es zu tragen. Und manchmal muss man den Anlass für das Tragen eines Kleidungsstückes regelrecht produzieren, um dem Outfit den großen Auftritt zu geben, den es verdient. Das Vivienne-Westwood-Kostüm war ein Erbstück von einer noch lebenden Person, der Großmutter einer Freundin nämlich, einer exzentrischen Lady schon weit über Achtzig, die sich entschieden hatte, ihre Garderobe an jüngere Frauen zu verschenken. Ihr Kleiderschrank: das Psychogramm eines starken Charakters und gleichzeitig ein historisches Dokument. Die »Dame von Welt« war am Sammeln von Avantgarde jedes Bereiches interessiert gewesen, und weil sich die (Kunst-)Geschichte zyklisch zu wiederholen scheint, war sie »right in time«, um meiner Freundin und mir die wertvollen Stücke zu schenken – denn vieles von dem, was sie in den 70ern erworben hatte, ist gerade jetzt wieder en vogue. So zum Beispiel ihre Jean-Paul-Gaultier- und Yves-Saint-Laurent-Zweiteiler und eben auch jenes rot­blau ge­strei­fte, glänzende Vivienne-Westwood-Kostüm mit dem unverkennbaren, wenn auch enig­ma­ti­schen Logo.

Mit Augen glänzender als das Kostüm, stiegen wir in die Kleider und machten uns gegenseitig die Verschlüsse auf und zu – meine Freundin beschwerte sich, was für eine schwierige Stadt Berlin wäre, wenn es um das Tragen von exzentrischer Fashion gehe. Ich freute mich, widersprechen zu können, denn ich hatte ja nun regelmäßige Anlässe, um mich glamourös zu kleiden: meine Besuche in der Philharmonie. Es scheint am Gebäude selbst zu liegen, dass es die Frage nach »Over­dressed­ness« nivelliert. Man liegt nie falsch – man kann die Architektur genau so interpretieren, wie man es möchte: Sie gibt allen Formen der Garderobe einen Anlass. Wie ein Chamäleon erhebt sie sich als Bühne um diejenigen herum, die gesehen werden wollen (dieses Mal: ich) und lässt jene verschwinden, die unsichtbar bleiben wollen (ebenfalls ich, an anderen Tagen). ähnlich verhält es sich mit dem Orchester selbst – diejenigen der Musiker:innen, die in High Heels spielen, sind in dieser Entscheidung glaubwürdig und jene, die sich für schlichte schwarze Kleidung entscheiden, fügen sich ebenfalls harmonisch ein. Das »Zusammenklingen«, wie es der Begriff »Symphonie« schon in sich trägt, ergibt sich aus der Vielstimmigkeit, zu der die Unverwechselbarkeit der Einzelnen gehört. Dazu gehört auch die Konzertmode als Ausdrucksmittel. Und so war ich in meinem Westwood-Kostüm im Konzertsaal genau am richtigen Ort, bekam die Blicke, die meine Kleidung wollte – ebenso wie an anderen Tagen die bescheidene Zurückhaltung. Für den Weg zum Potsdamer Platz, im Bus M29 sitzend (beziehungsweise stehend, ich wollte mich nicht schmutzig machen), galten andere Regeln. Aber dazu mehr beim nächsten Mal.

01.10.2023: Die Zeit in den Händen halten

Als unbedarfte Konzertbesucherin fragt man sich regelmäßig, worin eigentlich genau der Job von Dirigent:innen besteht. Die Aufgabe, die die vom Zuschauerraum so winzig wirkende Person auf dem Podium erfüllt, ist so komplex und gleichzeitig so subtil, dass man manchmal vergisst, ihr genug Beachtung zu schenken. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass diese besonders wichtige Person dort unten, einem selbst, oben im Rang sitzend, den Rücken zukehrt. Ihre Hand­bewe­gungen sind manchmal kaum zu sehen, die Auswirkungen dieses manchmal dezenten kleinen Tanzes, den sie mit ihren Händen vollführt, dafür umso stärker zu hören – und zu spüren. Mit ihren Fingern und ihrem Gesicht trifft sie Entscheidungen, die in der Konsequenz den ganzen, riesigen Raum erfüllen, es sind emotionale, intellektuelle und rein musikalische Entscheidungen gleichzeitig. Sie sind sowohl analytisch als auch intuitiv. Es ist eine Sprache ohne Worte, und was wir hören ist eine raumgreifende Übersetzung des Orchesters – der Ausdruck der Dirigentin überträgt sich noch einmal in den Raum, sie wird von allen Musizierenden zwar individuell interpretiert und erzeugt dabei doch ebenjenes Zusammenspiel, das den spezifischen Gesamtklang ausmacht, der im Begriff der »Symphonie« eingeschrieben ist. Musik ist hier Teamsport.

Als ich zum Jubiläum meines Kinderchores, nach über zehn Jahren von meiner damaligen Chorleiterin dirigiert, ein Lied singe, fühle ich mich, als wäre ich in einem immateriellen Zuhause angekommen, dessen Existenz ich bereits vergessen hatte. Ihre mal sanften, mal bestimmten, zuweilen fast aggressiven Bewegungen sind mir vertrauter als mein eigenes Gesicht im Spiegel – und das, obwohl ihr Dirigat extrem zurückhaltend ist. Ich habe diese zwei Hände so oft angeschaut, dass ich einerseits antizipieren kann, was sie als nächstes tun werden, und ihnen andererseits blind genug vertraue, um mich von ihnen überraschen zu lassen. Es kommt mir vor, als könnte ich fast die Augen schließen und dennoch der von ihnen erzeugten Bewegung in der Luft folgen. Auch die Stücke selbst haben sich in ein außersprachliches Gedächtnis eingebrannt – fängt man einmal an zu singen, merkt man, dass alles noch da ist. »Eine Dirigentin muss doch mehr sein als ein menschliches Metronom«, sagt der Interviewer zu der Stardirigentin, die, nach langem Überlegen, antwortet: »Die Zeit zu halten, die Zeit zu machen, das ist doch schon sehr viel«. Und so ist in der Autorität jenes Taktschlages nicht nur die unmittelbare Gegenwart enthalten, sondern auch viele, ganz private Geschichten und Erinnerungen, die gemeinsam in ein wortloses Gespräch kommen.

30.08.2023: Blühende Lampen

Auf dem Absatz des zweiten Stocks öffnet mein Nachbar die Tür und sagt, er hätte meine Absatzschuhe auf der Treppe klackern gehört, »ob ich heute etwas Besonderes vorhätte?«. »Ja«, sage ich, »ich gehe in die Philharmonie«. »Oh, die Philharmonie!« antwortet er und bittet mich herein – er wolle mir kurz etwas zeigen. Ich schaue auf mein Smartphone und entscheide spontan, erst den übernächsten Bus zu nehmen – ich hatte extra Zeit eingeplant, um noch Canapés zu essen, bevor das Konzert losgeht. Die müssen bis zur Pause warten. Mein Nachbar ist achtundachtzig Jahre alt. Wir kennen uns seit dreißig Jahren. Beim Hereingehen erzählt er mir, wie ich als Kind immer laut gesungen habe, wenn ich an der Hand meines Vaters die Treppe rauf- und runterspazierte. Im Wohnzimmer zeigt er auf eine große Blume. Sie ist genauso groß wie er selbst, und als ich mich ihr mit der Hand nähere, erschrecke ich mich, denn die Blüte bewegt sich. Sie besteht aus cremefarbenen Blütenblättern auf einem dünnen metallenen Stiel, der sich, dem Gewicht des Kopfes folgend, in verschiedene Richtungen neigt. Mein Nachbar drückt einen Knopf und die Blüte ist plötzlich von warmem Licht erfüllt – sie ist eine Lampe. Er erklärt mir, sie sei eine Konstruktion aus den 50ern, die er damals von dem Designer Günter Ssymmank, seinem Professor an der TU, persönlich geschenkt bekommen habe. Seit mehr als sechzig Jahren bewegt sie sich nun anmutig im Kreuzberger Wohnzimmerwind. Er erzählt mir, dass die Lampen in der Philharmonie vom selben Designer entworfen wurden.

Nun bin ich doch spät dran: Ich haste auf meinen High Heels zum Oranienplatz und kriege gerade noch so den Doppeldeckerbus, der mich zur Potsdamer Brücke bringt. Die Menschen schauen mich komisch an, ich bin overdressed. Als ich ankomme, höre ich schon den Gong. Im Vorbeihetzen sehe ich die Ssymmank-Lampen im Foyer, sie sind ebenfalls cremefarben und sehen aus wie der modische Zierlauch. Auf meinem Platz angekommen, wird die Saalbeleuchtung, die an einen Sternenhimmel erinnert, sanft gedimmt. Es ist angenehm, dass es im Konzertsaal nie ganz dunkel wird – es gibt keine Illusion des unsichtbaren Publikums. Während das Orchester die Bühne betritt, denke ich, klatschend, darüber nach, dass der Begriff der »Symphonie« »zusammen­klingen« bedeutet – die Zuschauer:innen werden als Teil des Gesamtklanges ernst genommen, so impliziert es Hans Scharouns Architektur. Dann werde ich aus meinen Gedanken gerissen, denn das Konzert beginnt und ich schließe die Augen.