Korngold und die Affirmation von Schönheit

Der britische Dirigent John Wilson gründete bereits während seiner Studienzeit am Royal College of Music das John Wilson Orchestra, um Filmmusik vergangener Zeiten wieder zum Leben zu erwecken. Er arbeitet regelmäßig mit britischen Orchestern zusammen, debütierte unlängst bei namhaften europäischen Klangkörpern und macht sich seit einigen Jahren einen Namen als Operndirigent. Das DSO leitete Wilson erstmals zu Silvester 2017. Am 30. April kehrt er ans Pult des Orchesters zurück. Mit den DSO-Nachrichten sprach er über das Programm:

Mr Wilson, besonders in Deutschland herrscht immer noch eine starke Trennung zwischen »Ernster« und »Unterhaltungsmusik«. Wie geht es Ihnen, der Sie beide Genres sehr ernst nehmen, damit?

Dazu habe ich eine ganz klare Meinung: Im Jahr 2020 hat von der Unterhaltungsmusik der 30er- bis 50er-Jahre, der ich mich oft widme, nur das Beste überlebt. »The cream rises to the top« – Qualität setzt sich langfristig durch. Die Songs von Cole Porter, Irvin Berlin, George Gershwin und Richard Rogers haben ein extrem hohes Niveau, und jeder, der auf diese Musik herabsieht, sollte seine Einstellung mal auf den neuesten Stand bringen. Denn die Songs von Gershwin sind für das 20. Jahrhundert ebenso wichtig wie die Schubert-Lieder für das 19. Bei Schubert findet man eine ganze dramatische Welt in einem Lied, und genauso hoch ist auch der Erfin­dungs­reich­tum Gershwins. Deswegen habe ich für solch eine Unterteilung kein Verständnis.

Um genau diese Musik zu spielen, haben Sie 1994 das John Wilson Orchestra gegründet, das aus einigen der besten britischen Orchestermusiker besteht und die rekonstruierten Partituren von Musicals aus dem Goldenen Zeitalter von Hollywood und Broadway zu neuem Leben erweckt. Wie kam es dazu?

Ich habe mich damals mit befreundeten Musiken zusammengetan, weil die Musik, die wir liebten und die wir ernst nahmen, nirgendwo gespielt wurde. Wir mochten die amerikanischen Orchester der 40er- und 50er-Jahre, die Bigbands von Tommy Dorsey, von Nelson Riddle und das MGM Studio Orchestra. Die Instrumentierung und die Qualität des Materials haben uns fasziniert, und wir wollten den Sound wieder zum Leben erwecken. Wir haben uns über ein Vierteljahrhundert ein Repertoire aufgebaut und das Ganze mit einem leidenschaftlichen Ernst betrieben. Auch wenn es nach großem Spaß aussieht, ist es harte  Arbeit.

Sind Sie also ein Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis?

Ja, ganz bestimmt. Am Anfang steht die Forschung, die Analyse historischer Aufnahmen. Zunächst muss der Notentext exakt stimmen, dann geht es um die Spielweise, wie man diesen besonderen Streichersound hin­be­kommt. Auch die Wahl der Instrumente ist wichtig, die historischen Saxophone, die Posaunen mit schmaler Bohrung, das Schlagzeug von 1955 mit Naturfellen.

Und die Noten kann man nicht einfach kaufen ...

Leider nicht, wir mussten von Null anfangen. Ich selbst habe in 30 Jahren mühevoller Kleinarbeit Partituren zu an die 300 Filmen und Songs aus den Aufnahmen rekonstruiert, denn die Originalpartituren wurden damals meist vernichtet.

Wie fing Ihre Musikbegeisterung an?

Schon mit drei Jahren lief ich zum Klavier meiner Großmutter und schlug darauf herum. Ich war wie besessen von Musik, und ich hatte das Glück, dass es in Nordengland, wo ich aufwuchs, ein sehr aktives Amateurmusikleben gab, mit Orchestern, Blaskapellen,  Laienaufführungen. Ich hörte dort mit zehn Jahren die Operetten von Strauss und Lehár, die komischen Opern von Gilbert und Sullivan und amerikanische Musicals. Meine Begeisterung für die leichte Muse erklärt sich vor dem Hintergrund dieser lokalen Musikpflege, an der ich auch teilnahm – erst als Schlagzeuger, dann als Pianist und bald auch als Dirigent.

John Wilson
»Es gibt wohl kaum einen anderen genialen Komponisten, der so lange und so unfair vernachlässigt wurde wie Korngold.«

John Wilson

Am 30. April sind Sie mit den ›Vier letzten Liedern‹ von Richard Strauss und Erich Wolfgang Korngolds Fis-Dur-Symphonie beim DSO zu Gast. Was verbindet diese miteinander?

Sie sind beide eher retrospektiv, wenn nicht gar nostalgisch. Besonders bei Korngold geht es um die Affirmation von Schönheit in der Musik. Er konnte mit Zwölftonmusik einfach nichts anfangen. Doch auch wenn er seinem tonalen Stil im Spätwerk treu blieb, gibt es darin eine gewisse Kantigkeit, die eher für Zwölftöner typisch war. Gerade am Anfang des ersten Satzes spielt er seine ganz eigene Variante von Dodekaphonie durch – als wollte er damit demonstrieren, dass man diese Elemente auch im tonalen Rahmen anwenden kann. Die Symphonie folgt der Tradition, ist aber unglaublich innovativ. Das brillante Scherzo ist eine wahre Tour de force, und das Adagio wahrscheinlich der beste Satz, den Korngold jemals schrieb. Als er einmal nach seinem Credo gefragt wurde, sagte er, er glaube an die »inspirierte Idee«, und die einfachen  d-Moll-Septund D-Dur-Sext-Akkorde, aus denen sich der außergewöhnliche dritte Satz entwickelt, sind das perfekte Beispiel dafür. Leider wurde seine Fis-Dur-Symphonie lange Zeit missverstanden. Ich habe sie im vergangenen Jahr aufgenommen und vertrete dabei ganz eigene Ansichten zu ihrer Interpretation. Bei mir ist sie sehr vorwärtsdrängend in der Phrasierung, rau, schlank – und viel schneller als bei allen anderen.

Korngold, der in Hollywood große Erfolge gefeiert hatte, versuchte Ende der 40er-Jahre, wieder im Konzertsaal akzeptiert zu werden, etwa mit dem Violinkonzert und der Fis-Dur-Symphonie. Warum ist ihm das nicht gelungen?

Seine gereifte Spätromantik passte nicht mehr in die schöne neue Nachkriegswelt. Es gibt wohl kaum einen anderen genialen Komponisten, der so lange und so unfair vernachlässigt wurde wie Korngold. Oft hat man ihm unterstellt, seine Musik klinge nach Hollywood, obwohl es genau umgekehrt ist! Bevor er 1934 nach Los Angeles kam, klang Hollywood nach gar nichts, und danach haben ihn plötzlich alle imitiert.

Etwa zur selben Zeit entstanden auch die ›Vier letzten Lieder‹, die oft als künstlerisches Vermächtnis von Richard Strauss beschrieben wurden. Was bedeuten sie Ihnen?

Ich bin mit diesem Werk aufgewachsen und hatte lange eine Schallplatte mit Gundula Janowitz und Herbert von Karajan. Vor allem eine ganz frühe Aufnahme mit Elisabeth Schwarzkopf hat mir die Augen geöffnet, weil sie von unglaublichem Ausdruck, aber so unsentimental und einfach war.

Es darf Ihnen also nicht zu üppig werden?

Genau. Die Balance ist absolut entscheidend. Die Intimität und Nähe, die diese Lieder verlangen, lässt sich im Studio und nahe am Mikrofon natürlich einfacher herstellen als auf der Bühne. Deswegen muss man im Konzert besonders auf die Dynamik achten. Zeitlebens waren Lieder – ob nun von Schubert oder Cole Porter – für mich sehr wichtig, und auch bei Strauss liebe ich vor allem seine Lieder. In denen ist er wahrscheinlich am tief­grün­digs­ten und aussagekräftigsten. Jede Note steht an ihrem Platz, jedes Wort ist wichtig, alles hat seine Bedeutung. Ein Werk mit so gehaltvollen Ideen wird immer größer sein als jede Aufführung. Als Dirigent steht man da in der Verantwortung und muss die Sänger unterstützen. Mit der kanadischen Sopranistin Erin Wall, die die ›Vier letzten Lieder‹ am 30. April singen wird, habe ich bislang noch
nicht zusammengearbeitet, freue mich aber sehr darauf.

Das Gespräch führte  MAXIMILIAN RAUSCHER.
Erschienen in den DSO-Nachrichen 03/04 2020.