»Ich möchte, dass der Komponist gewinnt!«

Sir Roger Norrington über seinen neuen Martinů-Zyklus ab dem 01.05.

Mit dem englischen Altmeister Sir Roger Norrington verbindet das DSO eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit. Nach dem Abschluss seines gefeierten Vaughan-Williams-Zyklus im vergangenen Jahr verheißt nun ab dem 1. Mai eine neue Serie hochspannende Entdeckungen im Werk eines immer noch wenig bekannten Symphonikers – des tschechischen Komponisten Bohuslav Martinů (1890–1959).

Sir Roger, in Kammermusikprogrammen ist Martinůs Musik regelmäßig zu finden, seine Symphonien werden jedoch kaum gespielt. Woran liegt das?

Das verstehe ich auch nicht, denn sie sind fantastisch, und so überaus individuell! Man hört schon nach ein paar Takten, dass es sich dabei um Martinů handelt. So einen eigenständigen Klang haben nur wenige Komponisten – Bruckner natürlich, in gewisser Weise auch Berlioz. Es hängt vielleicht damit zusammen, dass Martinů hauptsächlich Autodidakt war. Man hat ihn zweimal vom Konservatorium in Prag geworfen.

Das erste Mal als Geiger, das zweite Mal als Komponist ...

Und doch war er dann als Geiger gut genug, um in der Tschechischen Philharmonie zu spielen. Er war als Student wohl nicht sonderlich diszipliniert, dafür sehr introvertiert, wahrscheinlich sogar ein wenig autistisch. Er erschuf sich seine eigene Klangwelt. Ein guter Freund, der amerikanische Musikkritiker  Michael Steinberg, erzählte mir einmal von seiner Studienzeit in Princeton in den  1940er-Jahren – der Zeit, in der Martinů seine Symphonien schrieb. Man hatte Martinů damals zu Vorlesungen eingeladen, aber er war als Dozent ein hoffnungsloser Fall [lacht], es kam keiner zu seinen Veranstaltungen. Und so haben Michael und einige seiner Freunde Martinů sozusagen »übernommen«; er kam jeden Donnerstag mit dem Zug aus New York, wo er damals lebte, hörte mit ihnen Platten und diskutierte mit ihnen. Er war ein charmanter Gesprächspartner,  aber so bescheiden, dass er selten eine klare Meinung zu einem Stück von sich gab. »Die Menschen sollten nicht versuchen, sich bedeutender zu geben als sie sind«, hat er einmal zu Michael gesagt. Das sollte man einmal ein paar Dirigenten wissen lassen ... [lacht]

Foto: Unbekannt. Quelle: Bohuslav Martinu Centre in Policka – Lizenz: CC BY-SA 3.0 cz

 

Vielleicht konnte Martinů sich eben am besten musikalisch ausdrücken. Gerade nach seinem Verweis vom Konservatorium begann er überaus produktiv zu komponieren ...

Als wollte er der Welt zeigen, was er draufhat. Und nach dem Abschluss eines Werks wandte er sich sofort dem nächsten zu. Er hat für wirklich jede denkbare Besetzung komponiert und sprühte geradezu vor ungewöhnlichen, vollkommen originellen Ideen, wie man sie auch in der Ersten Symphonie hören kann. Dieses außergewöhnliche Schwanken zwischen Dur und Moll, Kadenzen, die nach Moll streben und dann in Dur enden, das sind ganz typische Martinů-Effekte. Seine Orchestertexturen sind überaus dicht gewebt. Es gibt zwar intime Momente darin, mit einer Solo-Oboe oder zwei Fagotten, aber die sind nicht charakteristisch für das gesamte Stück. Es gibt wenig konkrete Struktur in seiner Musik, und sie lässt sich schwer fassen, klingt aber großartig.

Sie sind eigentlich ein vehementer Verfechter des »pure tone«, des vibratolosen Spiels. Wie halten Sie’s bei Martinů?

Ich denke, wir werden seine Symphonien mit Vibrato spielen. Sicher wäre es spannend, sie auch einmal ohne zu hören, aber, historisch betrachtet, schrieb er seine Erste für das Boston Symphony Orchestra des Jahres 1942, das nachweislich Vibrato verwendete – auch wenn der Dirigent Serge Koussevitzky noch die Zeiten ohne erlebt hatte.

Sir Roger Norrington. Foto: Manfred Esser
Foto: Manfred Esser

 

Martinů verbrachte mehr als die Hälfte seines Lebens im Ausland, lebte 17 Jahre in Paris, später in den USA und in der Schweiz. War er immer noch ein böhmischer Komponist?

Oh ja! In der Rhythmik und Melodik der Ersten Symphonie steckt so viel Böhmisches wie in Dvořáks Neunter, die auch »in der neuen Welt« entstanden ist. Man kann eben nicht so leicht aus seiner Haut. Er war mit dieser Tradition verbunden, und er glänzte dadurch.

Sie werden in den kommenden Jahren alle sechs Martinů-Symphonie mit dem DSO aufführen, kombiniert jeweils mit einer Symphonie von Mozart. Gibt es zwischen den beiden Komponisten eine besondere Verbindung

Nein, überhaupt nicht. Aber ich liebe die Mozart-Symphonien, sie liegen mir als Dirigent besonders, und sie bilden einen reizvollen Kontrast zu Martinů, auch durch die Besetzung. Vor ein paar Jahren haben wir einmal ein reines Mozart-Programm beim DSO gemacht – nur zwei Reihen von Streichern im Halbkreis, die Bläser stehend dahinter. Das gibt der Musik einen sehr kammermusikalischen Anstrich, und wenn dann nach der Pause das große Orchester spielt, könnte der Gegensatz nicht größer sein. Ich wollte ursprünglich die letzten sechs Symphonien von Mozart dirigieren, aber die ›Haffner‹-Symphonie KV 385 ist leider sehr kurz. Deswegen spielen wir stattdessen am 1. Mai eine Symphonie-Fassung der ›Haffner‹-Serenade KV 250, die von Mozart selbst stammt, aber kaum zu hören ist. Vielleicht ändere ich bei den letzten drei Mozart-Symphonien auch die Reihenfolge, stelle den Martinů voran und spiele den Mozart mit größerer Besetzung. Das ist durchaus legitim, denn das hat Mozart, als sich die Gelegenheit in Wien oder Paris bot, durchaus gemacht – und dann selbstverständlich auch die Bläser verdoppelt. Das war früher völlig normal, wenn man viele Streicher hatte. Insofern wäre es historisch also falsch, dann mit einfachem Holz zu spielen.

Das sind die Lehren, die Sie aus der historisch informierten Aufführungspraxis gezogen haben ...

Ja, bei mir geht die Alte Musik bis Elgar. [lacht] Scherz beiseite, man muss wirklich jeden Aspekt berücksichtigen und alle Quellen heranziehen, um herauszufinden, wie man damals gesessen, gespielt, geklungen hat. Die Orchester hatten früher die Ersten Geigen links und die Zweiten rechts, es gibt Dirigierfotos von Mahler und Elgar, die das bezeugen. Die Tempi sind wichtig, der Klang ist wichtig. Andernfalls wird man dem Komponisten nicht gerecht. Ich möchte, dass der Komponist gewinnt! Und ich möchte, dass Martinů gewinnt, denn ich bewundere seine hinreißende, seine herrliche Musik. Ich denke, das Publikum  wird überwältigt sein!

Das Gespräch führte MAXIMILIAN RAUSCHER.

Erschienen in den DSO-Nachrichten 05/06 2018.